Statement von Mark Nash zu documenta + film

Inzwischen ist seit der d 5 ein halbes Menschenleben vergangen, wenn nicht sogar noch mehr! 1972 studierte ich gerade Filmgeschichte in London. Ich war kurz davor, mich einer Gruppe anzuschließen, der Society for Education in Film and Television, und an der Zeitschrift Screen mitzuarbeiten, die die Bedingungen in Frage stellte, unter denen die Debatte über die Rolle der Massenmedien in der zeitgenössischen Gesellschaft damals geführt wurde - und zwar durch einen massiven Import französischer Theorien aus der Linguistik, Semiotik und der Psychoanalyse.
In den frühen Siebzigern spielte die Möglichkeit einer politischen und sozialen Veränderung durch ideologische Auseinandersetzungen im kulturellen Bereich eine große Rolle. Wir zitierten oft Bertolt Brechts Worte: Worauf es ankommt, ist die Dinge zu verändern. Althussers Arbeit, kombiniert sowohl mit sowjetischen als auch chinesischen Schriften über die gesellschaftliche Funktion von Kunst (nicht umsonst auch Teil der documenta 5), waren uns überaus wichtig.
Die documenta 5 war allerdings einzigartig in ihrem Zusammenbringen von Avantgarde-Filmen und Video-Kunst mit diesen elaborierten politischen und kulturellen Mustern. In Großbritannien wurden diese beiden Diskurse und deren Vertreter fein säuberlich getrennt. Tatsächlich gab es da zwei Avantgarde-Bewegungen: Der FilmCoop Bewegung ging es um formales Experimentieren, filmischer Greenbergianismus, wenn man so will, und dann gab es da noch eine etwas lockerer organisierte Bewegung des Politischen Kinos, der es darum ging, Auseinandersetzungen in der Darstellung sichtbar zu machen wie in den Arbeiten von Godard oder auch Straub-Huillet. Diese Bewegung wurde bald verstärkt durch eine ungewöhnliche Mischung von Vertretern der Leinwand-Avantgarde wie z.B. Janeso und Oshima.
In meiner Erinnerung sind die 1970er eine Zeit der linken Fraktionsbildung - in vielen Fällen sogar der Mikro-Fraktionen. Unter dem Schutz der Leinwand gab es eine winzige Gruppierung, mich eingeschlossen, die diese »formalen« und politischen Avantgarden zusammenhalten wollte. Wir bemühten uns, die Kluft zwischen der theoretischen Reflexion über die Massenmedien und das Unterhaltungskino auf der einen Seite und der bereits über formale und politische Fragen zersplitterten Avantgarde auf der anderen Seite zu überbrücken.
Die meisten der Filme, die auf der d5 im Royal Kino liefen, sah ich in film-coop’s und bei britischen Film-Club Aufführungen. Die Künstlervideos aus dem Programm im Museum Fridericianum waren mir allerdings damals weniger bekannt.
In den vergangenen dreißig Jahren hat sich das Projekt eines politischen Avantgarde-Kinos mehr oder weniger aufgelöst. Das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch des »real existierenden« Sozialismus waren dabei wichtige Faktoren. Die co-op avantgarde ist ebenfalls in schlechter Verfassung. Die meisten der Coops mitsamt ihren unterstützenden Institutionen sind mittlerweile geschlossen, und die einzige Hoffnung für die noch existierenden Filme und Videos liegt in ihrer Erhaltung durch offizielle Einrichtungen wie dem British Film Institute, das wir einst sehr vehement kritisierten.
Unterhaltungs- und Kunstfilm sind inzwischen zu einem Archiv von Ideen und Bildern dieser schönen neue Welt geworden. Dies versinnbildlicht Godard´s »Histoire du Cinema«-Projekt. Seine Reflexion des vergangenen cinematografischen Jahrhunderts wird selbst zu einem eigenständigen ästhetischen Objekt mit immer schwächer werdender Anbindung zur ursprünglichen, im Dämmerlicht verschwindenden Vergangenheit der Filmgeschichte. Galeriebesucher werden Hitchcock wohl bald durch die Augen z.B. von Douglas Gordon oder Victor Burgin entdecken.
Andererseits haben sich Kunstfilm und -video als "bewegte Bilder" zu wichtigen, wenn nicht gar dominanten Diskursbeiträgen in der Welt der Museen und Galerien herausgestellt.
Irritierend für die ältere Generation der Cinephilen, der ich ja angehöre, ist die Tatsache, daß die mittlerweile verdeckte Geschichte der filmischen Avantgarde von der jungen Generation der Medien-Künstler oft völlig willkürlich neu erfunden wird. Eine wichtige Aufgabe für die Museen als auch für die Filmkritiker und die Journalisten ist, diese Geschichte festzuhalten und sie für zukünftige Generationen verfügbar zu machen.
Trauriger noch ist das Verschwinden der Bandbreite an ästhetischen und politischen Praktiken der Filmkollektive. Solche Filme und Videos wurden weltweit von der Frauenbewegung und von Cinema Novo in Lateinamerika produziert. Eine Vielzahl entstand auch bei den Kämpfen der Arbeiterklasse, z.B. dem Bergarbeiterstreik in Großbritannien oder den Cinétracts 1968 in Frankreich usw.. Von all diesen Bewegungen und ihren Filmen ist wenig geblieben, was man heute noch erhalten könnte. Vielleicht liegt ja die beste Form der Erhaltung darin, neue Arbeiten im Zusammenhang mit den immer noch stattfindenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu ermutigen, um mit diesen Geschichten wieder in Verbindung zu treten.
Ebenso wie die Fotografie die Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der vorgezeichneten Laufbahn des Realismus befreit hatte, ließe sich argumentieren, daß die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert vom Dialog mit den bewegten Bildern dominiert wurde. Ein großer Teil der gegenwärtigen Kunst befasst sich mit zeitlicher Dauer, Bewegung, mit Realismus und Darstellung. Themen, welche früher den Avantgarde-Film beschäftigten. In jüngster Zeit erforschen Künstler wie Eija-Liisa Ahtila oder Isaac Julien Themen der Erzählung und Phantasie, die bisher dem Unterhaltungskino vorbehalten waren.
Dies alles ist Teil eines komplexen Wandels der visuellen und der klanglichen Produktionsbedingungen von Subjektivität in unserer Kultur. In diesem Moment bewegt sich die Kunstpraxis möglicherweise weit vor der theoretischen und der kritischen Reflexion und signalisiert dadurch einen bevorstehenden kulturellen Wandel.
Es wäre töricht, in nostalgische Betrachtungen über vergangene ästhetische Praktiken zu versinken und sich dadurch gegenwärtigen Möglichkeiten und Produktivitäten zu verstellen. Statt dessen sollten wir uns die Frage stellen, wie heute die Forderungen nach Befreiung und gesellschaftlicher Veränderung artikuliert werden können, auf welche die d5 in Kunst und Film aufmerksam machte.

Übersetzung:
Stefanie Ross
Quelle:
18. Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest